NSU-Prozess: Systematische Beweismittelfälschung durch Ermittlungsbehörden?
Falk Schmidli
Erst kürzlich berichteten wir über »fatalist«, den Whistleblower im NSU-Fall, der aufseinem Blog »Wer nicht fragt bleibt dumm« die BKA-Dokumente des NSU-Falles leakt und analysiert. Hier ist nun einiges in Bewegung geraten.
Mittlerweile hat sich eine ganze Gruppe um »fatalist« der Beweise im NSU-Fall angenommen. Deren Analysen erhärten den Verdacht der systematischen Beweismittelfälschung. Diese Hobby-Kriminologen aus Leidenschaft scheinen die erste Internet-Community zu sein, die in Deutschland während eines laufenden Prozesses Akten leakt und zerpflückt, weil sie sie für suspekt halten. Wer Lust auf kriminologisch knifflige Rätsel hat, sollte die Miss-Marple-Romane weglegen, den Fernseher ausschalten und sich anschließen.
Enorme Sprengkraft
Enorme Sprengkraft
Sollte der NSU-Prozess an seiner inneren Unlogik kollabieren, hätte dies durchaus das Potenzial, den Glauben der Bürger an den Rechtsstaat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Das Thema »Bürger auf der Suche nach der Wahrheit« hat vor dem Hintergrund eines hochpolitischen Verfahrens enorme Sprengkraft.
Die Idee, Prozessakten durch Internet-Communities prüfen zu lassen, ist generell faszinierend. Möglicherweise entwickelt sich hier gerade ein neues und wohl auch notwendiges Kontrollinstrument durch das Volk. Der prominenteste Fall einer notwendigen Kontrolle durch das Internet – notwendig, weil die eigentlich zuständigen Stellen versagten – war die Dissertation von Karl-Theodor zu Guttenberg. »GuttenPlag« leistete akribische und kollaborative Arbeit, die zur Aberkennung des Doktortitels für Karl-Theodor zu Guttenberg, zum Verlust seiner politischen Ämter und zu einer mittleren Staatsaffäre führte.
Die eingangs erwähnte Gruppe hat einige Beispiele aus dem Fundus der besonders auffälligen Akten verschickt – an alle Personen des Innenausschusses des Deutschen Bundestages sowie weitere ausgewählte Politiker und Prominente. Das Schreiben finden Sie hier.
Aufgeschreckter Mainstream
Nachdem der Mainstream die Existenz der Whistleblower und die damit verbundene Story über Monate ignorierte, reagierte man nun ebenso zügig wie aufgeschreckt. SPIEGEL Online wurde mit dem Beitrag »Die seltsame Rolle von ›fatalist‹« aktiv, in dem gleich zu Beginn postuliert wird:»Interessanter jedoch als der Inhalt des Briefs ist einer seiner Verfasser.«
Genau das ist eben nicht so! Vielmehr ist es schlicht irrelevant, wer Fakten präsentiert oder eine interessante und glaubwürdige These in den Raum wirft. Genau das ist aber bei den von der Gruppe gelieferten Widersprüchen der Fall.
An der Person, die eine These entwickelt hat, arbeiten sich tendenziell jene Gegner der These ab, die in der Sache nichts gewinnen können. Damit ist der besagte Satz imSPIEGEL Artikel geradezu verräterisch – ein Eingeständnis der Schwäche in der Thematik selbst.
Spezialgebiet Nebenkriegsschauplatz
Die Strategie, vom eigentlichen Thema abzulenken, indem man die Person angreift, ist nicht neu. Im Buch Die Kunst Recht zu behalten brachte es bereits Schopenhauer auf den Punkt: »Beim Persönlichwerden aber verlässt man den Gegenstand ganz, und richtet seinen Angriff auf die Person des Gegners: man wird also kränkend, hämisch, beleidigend, grob. Es ist eine Appellation von den Kräften des Geistes an die des Leibes, oder an die Tierheit.«
Auch der SPIEGEL-Satz »Unter den Mitgliedern des zu Verschwörungstheorien neigenden ›Arbeitskreises‹ ...« ist schon als neuro-linguistische Programmierung (NLP) zu verstehen und soll wohl suggerieren, dass es sich bei der Gruppe um »fatalist« um Halbverrückte handelt. Dabei ist das Auffinden von Widersprüchen an sich natürlich keine Verschwörungstheorie. Zumal die Gruppe auch gar nicht öffentlich darüber spekuliert hat, wie diese Widersprüche zustande gekommen sind.
»Nazi-Keule« und Faktenvermeidung
Nach dem NLP-Intro bleibt es nicht aus, dass die drei SPIEGEL-Autoren die obligatorische »Nazi-Keule« auspacken: »Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden bestätigen die Recherchen: ›fatalist‹ sei bereits in der Vergangenheit unter diesem Namen auf rechtsextremen Plattformen unterwegsgewesen, heißt es.«
Vermutlich ist mit der nicht genannten Plattform das Forum politikforen.netgemeint, auf dem sich aber alles von ganz links bis ganz rechts trifft – auch politisch vollkommen Desillusionierte. Und was eigentlich soll an der Untersuchung von Widersprüchen in Akten »rechtsextrem« sein? Dreimal dürfen Sie raten, welche der aufgedeckten Widersprüche der SPIEGELseinen Lesern zur Information präsentiert hat. Richtig: Keinen Einzigen.
Stattdessen haben die drei Autoren eine ganze Menge an Informationen in dem Artikel platziert, die mit dem Brief der »fatalist«-Gruppe nichts zu tun haben – z.B. über den V-Mann »Corelli«, der trotz seines jungen Alters während des Prozesses überraschend verstarb. Was soll diese Geschichte im Kontext des Briefes?
Das Einzige, was der Leser nach der Lektüre des SPIEGEL-Artikels an neuen »Informationen« bekommen hat, ist der falsche Hinweis, dass »fatalist« auf rechtsextremen Plattformen unterwegs war und die Gruppe wahrscheinlich aus paranoiden Verschwörungstheoretikern besteht.
Widersprüche über Widersprüche
Dabei haben es die Widersprüche, die die Gruppe gefunden hat, in sich. Folgende Beispielebefanden sich im Anhang des Schreibens:
- Widersprüche bei der Tatwaffe der Marke Česká, die bereits am Vormittag des 11.11.2011 zur Tatwaffe erklärt wurde, obwohl die mehrwöchige waffentechnische Untersuchung erst an diesem Tag begonnen hatte.
- Widersprüche bei der Munition der gefundenen Dienstwaffen von Michèle Kiesewetter bzw. des Kollegen Arnold.
Wir haben mit dem Initiator der Aktion, Prof. Dr.-Ing. Andreas Wittmann, gesprochen:
Kopp Online: Herr Prof. Wittmann, wie kam es zu Ihrer Aktion und was motiviert Sie in diesem Fall?
Prof. Wittmann: Die Aktion begann zunächst mit einer Anzeige wegen des Verdachtes auf Beweismittelfälschung, die ich bei der Staatsanwaltschaft Karlsruhe aufgegeben hatte. Die Staatsanwaltschaft hat die Anzeige nach nur drei Tagen eingestellt. Unter anderem hieraus entwickelte sich im Forum die Idee, die Erkenntnisse an einen umfangreichen Mail-Verteiler zu senden. Hierzu zählen nahezu alle Mitglieder des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, weitere ausgewählte Politiker, Prominente und die Presse.
Mich motivierte, dass die vielen Widersprüche kaum von der Verteidigung thematisiert wurden, obwohl die Verteidigung über die gleichen Daten wie »fatalist« verfügte. Solche Widersprüche müssen aber thematisiert werden, weil jeder ein Recht auf eine richtige Verteidigung hat. Es istdabei unwichtig, ob Rechte oder Linke vor Gericht sitzen.
Die Straftaten, die man dem NSU-Trio zur Last legt, sind nach wie vor unbewiesen und unglaubwürdig, wozu gesunder Menschenverstand reicht, um dies zu erkennen. Ein weiteres Problem: Wenn man die Straftaten dem NSU-Trio lediglich zugeschoben hätte, würde nicht weiter nach den wahren Tätern ermittelt werden.
Bei der Analyse der BKA-Akten drängt sich zudem der Verdacht auf, dass die Behörden nicht sauber arbeiten. Insgesamt geht es um die Erhaltung des Rechtsstaates. Der Staat muss sich an seine eigenen Gesetze halten.
Kopp Online: Wie viele Personen sind in Ihrer Gruppe ungefähr aktiv? Wieso haben Sie das Schreiben mit vollem Namen und nicht anonym erstellt?
Prof. Wittmann: Das Kernteam besteht aus etwa einem Dutzend Personen, die sich intensiv mit den Akten beschäftigen. Bei vielen gab es in der Tat Bedenken, das Schreiben an den Innenausschuss mit vollem Namen zu zeichnen. Einige wollten auch anonym bleiben und blieben es auch. Die Idee, es eben nicht anonym zu machen, entwickelte sich auch durch meine Entscheidung, die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Karlsruhe mit meinem Klarnamen ins Netz zu stellen.
Kopp Online: Erzählen Sie uns etwas über die Empfänger der Nachricht, die Sie versendet haben.
Prof. Wittmann: Das Mailing erfolgte in drei Wellen. Die erste Welle ging an nahezu alle Mitglieder des Innenausschusses des Deutschen Bundestages per Einschreiben, danach per Mail. Die zweite Welle ging an etwa 30 bis 40 wichtige Mitglieder des Bundestages. Die dritte Welle ging an diverse Medienvertreter.
Kopp Online: Was ist die bisherige Resonanz? Haben sich die Angeschriebenen gemeldet?
Prof. Wittmann: Der SPIEGEL hat sich mehrfach gemeldet, sogar bevor die Mail an die Pressevertreter rausging. Ansonsten hat sich niemand gemeldet.
Kopp Online: Was sind das für Bürger, die sich in der »fatalist«-Gruppe engagieren?
Prof. Wittmann: Das ist eine bunt gemischte Truppe: Familienväter, Frauen, Künstler, Ingenieure. Insgesamt handelt es sich um einen gesellschaftlichen Querschnitt, bei dem allerdings der Akademikeranteil sehr hoch ist. Politisch ist es auch eine bunte Mischung.
Kopp Online: Welches Ergebnis erwarten Sie von der Aktion?
Prof. Wittmann: Ich erwarte leider nichts. Wahrscheinlich verläuft es im Sande.
Kopp Online: Wir danken Ihnen für das Gespräch.
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